„Von Hand schreiben ist unnütz: Tippen geht viel schneller“, das sagte jemand in der letzten Tee-Runde am Institut. Mir leuchtete das sofort ein; bis ich darüber nachdachte. Dann habe ich mich gefragt: Stimmt das überhaupt — wenn wir Gleiches mit Gleichem vergleichen? Ist dann Tippen schneller, oder ist Handschrift schneller?
Der erste Schritt führt zur Literaturrecherche: Laut Wikipedia1 liegt der Weltrekord beim Tippen mit Tastatur bei 821 Anschlägen pro Minute.2 Im gleichen Wettbewerb lag die beste Handschriftliche Leistung bei 1454 Anschlägen pro Minute (gezählt als 422 Silben pro Minute).3 Die Handschrift ist nicht langsamer, sondern über 75% schneller. Es gibt also etwas zu untersuchen.
Jetzt magst du sagen „Ja, das ist aber unfair, du vergleichst Tippen mit Steno!“. Wenn du das denkst, lass mich gegenfragen: „Ist es denn fair, die lateinische Ausgangsschrift mit Tippen zu vergleichen?“
Die Lateinische Ausgangsschrift ist, was wir in der Grundschule lernen, aber sie wird durch Training nicht viel schneller. Irgendwann werden die Formen mechanisch zu viel Aufwand, und sehr schnell geschriebene Texte werden oft unleserlich. Wer diese Unleserlichkeit vermeiden will, muss sorgfältig überlegen, wie die Formen vereinfacht werden können. Oder einfach ein Stenobuch zur Hand nehmen. Denn die DEK (die Deutsche Einheits-Kurzschrift) ist die logische Weiterentwicklung der lateinischen Schrift,8 wenn das Ziel nicht reine Ästhetik mit einem leicht brechenden Gänsekiel ist, sondern hohe Schreibgeschwindigkeit mit modernen Schreibgeräten.
Du magst einwenden „Aber Steno zu lernen dauert lange“, und du liegst damit nicht ganz falsch. Doch das gleiche gilt für schnelles Tippen. Da merken wir es nur nicht so sehr, weil die meisten von uns das weniger bewusst trainieren, sondern einfach sehr viel tippen, und weil sich das Ergebnis nicht ändert, wenn wir besser werden. Es ist nur schneller da. Aber die Geschwindigkeit erreicht selten auch nur das Niveau, das für Schreibkräfte mit Steno das Mindestkriterium war.
Wettbewerb Schnellschreiben:2
- Tastatur: Die besten neun schaffen über 620 cpm.
- Steno: Alle schaffen über 1000 cpm.
Früher konnte jede Sekretärin 180 Silben pro Minute von Hand schreiben. Das entspricht 620 Anschlägen pro Minute auf der Tastatur, die heute nur von den wenigsten erreicht werden. In dem oben verlinkten Wettbewerb 2001 haben das nur die besten 9 Tippenden erreicht. Diese Geschwindigkeit war früher ein notwendiges Kriterium zur Einstellung! Der Durchschnitt der Geschwindigkeit der Handschrift dürfte noch deutlich höher gelegen haben: Alle Teilnehmenden in deutscher Stenographie erreichten in dem Wettbewerb mehr als 300 Silben pro Minute, also über 1000 Anschläge pro Minute!
Unser Schriftverkehr wurde durch Computer schneller, aber das gilt paradoxerweise nicht für das Aufschreiben selbst. Das wurde im Gegenteil eher um mindestens Faktor 2 langsamer — zumindest wenn wir gleiches mit gleichem vergleichen: Professionelles Handschreiben mit professionellem Tastschreiben (oder Handschrift mit Zwei-Finger-Adlerauge-Suchsystem — oder gar Handytippen9). Nur direkte Spracherkennung kommt dem nahe, doch Stenografen können deutlich schneller schreiben als Menschen sprechen.10
„Das sagst du jetzt so, aber wie sieht es bei dir aus? Bist du nicht auch ein Tipper?“ Das ist ein berechtigter Einwand. Ich tippe selbst etwas schneller als ich von Hand schreibe. In meinem letzten Test kam ich beim Abschreiben von Hand auf das Äquivalent von 411 Anschlägen pro Minute, bin aber beim Tippen bei etwa 470 Anschlägen pro Minute. Gleichzeitig tippe ich aber auch schon seit fast 20 Jahren doppelt bis dreimal so viel wie ich von Hand schreibe. Hätte ich Steno gelernt wie es Sekretärinnen früher lernten, könnte ich dagegen viel schneller von Hand schreiben als ich tippe, und mit weniger Anstrengung. Jede Sekretärin musste früher schneller schreiben können, als ich es heute kann. Diesen Text habe ich (wie viele andere) in Steno entworfen und dann abgetippt.
„Was schlägst du dann vor?“ Wir sollten in Deutschland unsere Prioritäten überdenken, gerade in der Bildung. Nur weil heute alle gezwungen sind, halbwegs schnell zu tippen, können noch lange nicht alle beurteilen, wie effizient Handschrift ist, und nur weil Rechner heute sehr umständliche Eingabemethoden haben und effiziente und gleichzeitig exakte Bedienung Grafiktabletts vorbehalten ist, heißt das nicht, dass Spracherkennung die beste Option ist. Wir brauchen nur eine Handschrifterkennung für Steno, und die ganze Effizienzfrage muss neu aufgerollt werden.
Die aktuellen Begrenzungen der Technologie sollten daher nicht unsere Bildungspolitik bestimmen. Bildung muss für ein ganzes Leben sinnvoll sein, nicht nur für die nächsten 15 Jahre. Und wenn wir professionelle Handschrift mit professionellem Tippen vergleichen, gewinnt die Handschrift deutlich. Erst wenn statt einer Tastatur eine Stenographiemaschine verwendet wird, kann Tippen die Handschrift überbieten, allerdings laut Herstellerangaben um gerade mal 10%.
Entgegen meiner eigenen anfänglichen Annahme ist Tippen also nicht schneller als Handschrift. Das Gegenteil ist der Fall: Handschrift ist 75% schneller als Tippen.
Alles in allem bleiben dem Tippen nur 3 Vorteile: Leichteres Weitergeben, leichteres Ändern, und dass es für Englisch und Spanisch ähnlich funktioniert wie für Deutsch (allerdings nicht für Chinesisch, für Polnisch oder Ukrainisch, und nicht einmal wirklich für Französisch12). Zwei dieser Vorteile können sich jedoch durch Handschrifterkennung für Steno schnell ändern.
Dafür hat das Tippen beträchtliche Nachteile: Gleichungen sind schlecht zu schreiben. Zeichnungen sind umständlich. Es ist nicht klar einer Person zuzuordnen und dadurch für rechtlich bindende Dokumente eigentlich untauglich (z.B. für ein Testament: Wie soll eine Unterschrift beweisen, dass ich den Text wirklich gelesen habe?), und es braucht zwingend Maschinen, die immer Sicherheitslücken darstellen. Würden wir so viel von Hand schreiben wie wir Tippen, und würden wir in der Schule auch Schnell-Schrift lernen und nicht nur Schön-Schrift, dann wäre die Handschrift dem Tippen auch bei Nicht-Profis klar überlegen.
Daher sollten wir in der Schule weiter die Handschrift lernen, und Schülerinnen und Schülern zeigen, was mit ihr möglich ist.
Wie viele andere Texte in den letzten Jahren habe ich diesen Text erst in Steno entworfen und dann abgetippt. Dadurch überarbeite ich den Text automatisch mindestens einmal und ich kann überall an Texten arbeiten.
Abbildung 1: Textentwurf, Seite 1.
Abbildung 2: Textentwurf, Seite 2.
Abbildung 3: Textentwurf, Seite 3.
Abbildung 4: Textentwurf, Seite 4.
Sowas ähnliches wie Literatur, die erste Annäherung, wenn man selbst nicht aktiv in einem Gebiet arbeitet :)
Erreicht beim 30 Minuten Tippen 2001 auf dem 43. Intersteno-Kongress In Hannover.
Eine Silbe enthält etwa 2.68 Phoneme,4 was 2.9 Buchstaben pro Silbe entspricht. Dazu kommt nochmal je 1,83 Silben ein Leerzeichen,5 so dass pro Silbe etwa 3.4 Zeichen getippt werden müssen.6
Wikipedia referenziert hier vier Veröffentlichungen: (1) Karl-Heinz Best: Silbenlängen in Meldungen der Tagespresse. In: Karl-Heinz Best (Hrsg.): Häufigkeitsverteilungen in Texten. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2001, Seiten 15-32. (2) Falk-Uwe Cassier: Silbenlängen in Meldungen der deutschen Tagespresse. In: Karl-Heinz Best (Hrsg.): Häufigkeitsverteilungen in Texten. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2001, Seiten 33-42. (3) Karl-Heinz Best: Silbenlängen im Deutschen. In: Glottotheory 4, 2013, Seite 36-44, Daten Seite 42. (4) Helmut Meier: Deutsche Sprachstatistik. 2., erweiterte und verbesserte Auflage. Olms, Hildesheim 1967, 1978, ISBN 3-487-00735-5, Seite 321.
Die durchschnittliche Wortlänge, gewichtet nach Häufigkeit, ist 1,83 Silben pro Wort. Wikipedia referenziert hier George Kingsley Zipf: The Psycho-Biology of Language. An Introduction to Dynamic Philology. The M.I.T. Press, Cambridge, Massachusetts 1968, Seite 23. Erstdruck 1935. Kommentar in der Referenz: Zipf erwähnt noch, dass Kaeding die Summe der Wörter auf 10,910,777 korrigiert habe, ohne die Verteilung auf die verschiedenen Wortlängen mitzuteilen. Die angeführte Berechnung ist geringfügig korrigiert und etwas ergänzt. Die gleichen Daten wie bei Zipf finden sich in: David Crystal: Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Campus, Frankfurt New York 1993, Seite 87. ISBN 3-593-34824-1../
„Ich lerne Stenografie, weil ich meine Schrift immer weiter entwickeln können will.“ — Steno: Eindeutig rekonstruierbare Piktogramme.
Selbst mit Swype/T9 Trace/SwiftKey/… erreichen Leute laut Herstellerangaben gerade mal 50 Wörter pro Minute, also etwa 315 Anschläge pro Minute. Die durchschnittlichen Geschwindigkeiten dürften deutlich niedriger liegen.
Leute sprechen etwa 90 bis 160 Wörter pro Minute,11 was etwa 550 bis 1000 Anschlägen pro Minute entspricht. Alle Stenografen in dem Wettbewerb 2001 in Hannover konnten also schneller schreiben als Leute sprechen, langsame Sprechende sind nur etwa halb so schnell wie die langsamsten Stenographen in dem Wettbewerb. Der Referenzbereich liegt nur bei 90 bis 120 Wörtern pro Minute, also bei 567 bis 756 Anschlägen pro Minute.
Die Sprechgeschwindigkeit von 90 bis 160 Wörtern pro Minute kommt wieder aus Wikipedia und wurde bei Predikten gemessen: Christian Bensel: Linguistische Notizen zu Predigten in den „Freikirchen in Österreich“. In: Christian Bensel, Jonathan Mauerhofer (Hrsg.): Predigt zwischen Anspruch und Wirklichkeit. VTR, Nürnberg 2016, S. 14-33, dort 19.
Wer eine französische AZERTY-Tastatur gewohnt ist, hat große Probleme, auf QWERTZ oder QWERTY zu tippen. Wer den angenehmen Bewegungsfluss von Belegungen wie Dvorak (Englisch) oder Neo (Deutsch) kennt, wird sich über die Behauptung der sprachenübergreifenden Verwendbarkeit von Tipp-Kenntnissen vermutlich sowieso wundern.
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