Die Herausforderungen unserer Zeit sind nicht technischer, sondern sozialer Natur
Wie entscheiden wir, wohin wir gehen? Und warum?
Zu Gesundheit und der Energiewende, zur Zukunft der Mobilität oder zu Handys lese ich viel von neuen Technologien. Und für viele Techniker sind rechtliche oder gesellschaftliche Fragestellungen „Nicht-Probleme“. Ich selbst habe sie auch lange so gesehen. Aber wenn ich mir die Welt anschaue, dann ist es gerade umgekehrt: Jede technische Herausforderung, vor der wir zur Zeit stehen, können wir lösen, wenn wir uns nur als Gesellschaft entscheiden, sie gemeinsam anzugehen. Die wirklichen Probleme sind dagegen nicht technisch. Sie liegen in der Entscheidung, was uns wirklich wichtig ist.
Was uns wichtig ist
Wenn uns als Gesellschaft Gesundheit wirklich wichtig wäre, dann gäbe es keine Antibiotikaresistenten Keime, weil weder von Ärzten noch von Landwirten Antibiotika wie Brausepulver ausgegeben würden. Stattdessen würden Milliarden in die Forschung gesteckt, wie Tiere so gehalten werden können, dass sie gar nicht erst krank werden, und Ärzte würden Fortbildungen von unabhängigen, gesellschaftlich finanzierten Stellen erhalten, während Medikamentenentwicklung stärker gesellschaftlich finanziert würde, statt von Firmen, die die Entwicklungen danach in möglichst großer Menge und zu möglichst hohem Preis verkaufen müssen. Das Geld dafür ist da, es wird nur anders genutzt.
Wie viel Geld da ist, sehen wir in jedem Krieg, in dem wieder Milliarden über Milliarden verbrannt werden, ohne mit der Wimper zu zucken. Für den Preis von nur 4 Stunden Irakkrieg können wir einen Forschungssatelliten ins All schicken1. Oder, um näher zur eigenen Wohnungstür zu kommen, wir sehen es in der massiven Finanzierung der Smartphone-Entwicklung. Wir als Gesellschaft entscheiden, unglaubliche Mengen an Geld in die Rechnerentwicklung zu stecken — weil der Großteil der Menschen ständig neue Handies kauft und dadurch Software vor allem für die neusten Geräte entwickelt wird, statt sie so zu schreiben, dass sie auf allen Geräten läuft, die die letzten 10 Jahre verkauft wurden.
Und Smartphones statt Gesundheit ist nicht das einzige Beispiel. Wenn uns die Energiewende wichtig wäre, dann würden wir seit 10 Jahren schon keine Kohle, kein Öl und kein Gas mehr verbrennen. Wir hätten hunderte von Milliarden in die Forschung gesteckt und wären vor 10 Jahren schon viel weiter gewesen als wir es heute sind. Dass das Geld dafür da ist, haben wir in der Bankenrettung gesehen. Wenn uns die Bekämpfung von Extremismus und Terror wichtig wäre, dann würde auf der Welt kein Kind mehr hungern — auch nicht bei uns in Deutschland. Auch dafür ist Geld da. Es wird nur anders genutzt.
Doch all das wird nicht gemacht. Denn die wirklichen Probleme sind heute nicht technischer, sondern sozialer Natur.
Wie entscheiden wir als Gesellschaft, wohin wir gemeinsam wollen? Woher wissen wir, was wahr ist, und woher wissen wir, was wichtig ist? Wie entscheiden wir, was wir selbst als Realität ansehen? Und wem glauben und vertrauen wir?
Das sind die wirklich schwierigen Fragen unserer Zeit — und es sind schon die wichtigen Fragen, seit wir Menschen nicht mehr jeden Tag ums Überleben unserer Spezies kämpfen müssen.
Technik
Das heißt nicht, dass Technik unwichtig ist. Besonders deutlich wird das an Fortschritten in Landwirtschaft und Medizin. Dank Pflug, Impfungen und Antibiotika brauchten wir immer weniger Leute, um die Erfüllung der Grundbedürfnisse einer Gemeinschaft zu sichern, so dass Arbeitskraft für Bildung und Forschung frei wurde. Und als Gewehr und Langspieß entwickelt wurden, brauchten Länder keine lebenslang trainierte Ritterkaste mehr, um sich gegen ihre Nachbarn zu schützen. Die Entwicklung des Buchdrucks erleichterte die Weitergabe von Ideen außerhalb Kirchlicher Strukturen.
Technik verschiebt die Rahmenbedingungen unserer Entscheidungsfindung. Sie verändert, wie groß bestimmte Gruppen sein müssen, um den gesellschaftlichen Diskurs dominieren zu können. Wenn es genügend autonome Kampfdrohnen gibt, um ein Land zu beherrschen und eine kleine Gruppe von Leuten die Kontrolle darüber hat, dann haben Andere in der Gesellschaft nicht mehr viel zu entscheiden, so dass ihr Diskurs nicht mehr relevant ist. Das gleiche gilt, wenn statt der Drohnen selbsternannte Gotteskrieger mit Waffen herumlaufen.
Mit Technik kann sich die Anzahl der Leute vergrößern oder verkleinern, die zusammenarbeiten müssen um die Gesellschaft zu kontrollieren, so wie diese Anzahl durch das Internet erst deutlich vergrößert wurde, um dann mit der Dominierung der öffentlichen Wahrnehmung und der persönlichen Kommunikation durch einige wenige wieder deutlich zu schrumpfen2.
Und durch den Klimawandel kann es passieren, dass wir als Spezies uns selbst soweit aus unserem Komfortbereich drängen, dass Technologie wieder zur wirklichen Herausforderung wird. Dass wir also nicht wissen, ob wir als Individuen, als Gesellschaft und als Spezies auf lange Sicht überleben können.
Gesellschaft
Doch die Entscheidung, welche Technologie wir nutzen, und die Entscheidung, welche wir zulassen und welche wir begrenzen — oder nur defensiv entwickeln — ist eine soziale Entscheidung. Während wir aber Technik immer besser verstehen und die Zahl der Naturwissenschaftler immer weiter ansteigt, stagnieren die Sozialwissenschaften: Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaften, die erkunden, wie wir in Gruppen Entscheidungen treffen, und wie wir bessere Entscheidungen treffen können. Und zwar, obwohl gerade jetzt durch Technologie — durch Facebook, Youtube, Twitter und umfassende Kommunikationsanalyse — regelrechte Goldgruben für Sozialwissenschaften geöffnet wurden. Aber gefördert werden Sozialwissenschaften kaum. Und das ist ein Problem.
Und zwar leider auch wieder ein soziales. Wir als Gesellschaft müssen erkennen, dass der Kern zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit in den Sozialwissenschaften liegt. Genauer: In Sozialwissenschaften, die zum Wohl der Gesellschaft und zum Wohl Aller helfen zu verstehen, wie Menschen in Gruppen sinnvolle Entscheidungen treffen können, auch und gerade wenn sich unterschiedliche Interessen gegenüberstehen. Die nach Wegen suchen (und sie kommunizieren) wie eine Gesellschaft so organisiert werden kann, dass mehr Menschen sehen, welche Maßnahmen wirklich in ihrem Interesse sind und welche anderen Interessen es gibt. Was dafür sorgt, dass Politik stärker im Interesse der durch sie vertretenen Menschen handelt. Und wie Gesellschaften die Folgen ihrer gemeinsamen Entscheidungen abschätzen können, um zu sehen, welche Freiheiten sie wirklich haben und welche Entscheidungen Nebenwirkungen hätten, die wir als schlimmer ansehen würden, als ihren direkten Nutzen.
Aufklärung
Das bedeutet, wir brauchen einen nächsten Schritt der Aufklärung: Den Weg der Menschlichen Gesellschaft aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wenn wir alle verstehen, wer und was unsere Entscheidungen beeinflusst, können wir auch selbst entscheiden, wem wir diese Möglichkeit geben wollen. Und das wird unangenehm werden, denn wie auch zur Zeit der individuellen Aufklärung ist Unmündigkeit angenehm, solange wir ihre Folgen ausblenden können. Doch wie auch in der individuellen Aufklärung ist der Gewinn durch Eigenverantwortung und Selbstbestimmung weitaus größer als die Unannehmlichkeit, die Wirklichkeit anerkennen zu müssen.
Für diesen Schritt wende ich mich an Sie — brauche ich Sie — der oder die Sie diesen Text hier lesen und bis hier gelesen haben. Denn auch wenn wir viele der wichtigen Schritte nur in einer Gemeinschaft angehen können, fängt Aufklärung doch immer bei Einzelnen an.
- Welchen Informationsquellen vertraue ich?
- Wie verändern mich die Dinge, denen ich meine Aufmerksamkeit schenke?3
- Mit wem möchte ich arbeiten?
- Mit wem unterhalte ich mich über Neuigkeiten? Hinterfragen wir dabei die Quellen?
- Wo kann ich vertraulich über Neuigkeiten diskutieren?
- Mit wem will ich etwas verändern?
- Mit wem will ich meine Freizeit verbringen?
- Aus welchen Gruppen kann eine größere Bewegung entstehen?
- Wie können wir sie verstetigen?4
- Was will ich verändern?
- Was will ich erhalten?
- Wie berichtet mir mein gewählter Vertreter oder meine gewählte Vertreterin, was er oder sie dank meiner Stimme für mich erreichen kann?
- Wie stelle ich sicher, dass die mich Vertretenden erfahren, was mir wichtig ist?
- Wem habe ich die Aufgabe zur Vertretung meiner Interessen weitergegeben?
- Und was gibt mir selbst Mut zu handeln?“
Und nach den Fragen: Bitte geben Sie diesen Text an all die weiter, die sich dafür interessieren könnten. In einer Form und mit einer Notiz, die ihnen zeigt, dass Sie den Text wirklich geprüft haben. Auf diese Art trägt er zur gesellschaftlichen (Selbst-)Aufklärung bei.
Link zum Weitergeben:
https://www.draketo.de/politik/herausforderungen-technisch-sozial
Aufruf zu einem nächsten Schritt der Aufklärung:
https://www.draketo.de/politik/herausforderungen-technisch-sozial#aufklaerung
Fußnoten:
Das Internet hat die Anzahl der Leute erhöht, die nötig sind, um die Gesellschaft zu kontrollieren, weil wir alle veröffentlichen konnten. Heute reduziert es sie, weil es immer schwerer wird zu unterscheiden, wer eigentlich verlässlich ist — oder auch nur, ob uns jemand als wirkliche Person begegnet oder als bezahlter Propagandist.
Wie es uns
verändert, was wir Aufmerksamkeit schenken, beschreibt z.B. die
Radfahr-Journalistin Kate Wagner in ihrem Bericht darüber, wie sie einmal zur Formel 1 eingeladen war:
“I experienced firsthand the intended effect of allowing
riffraff like me, those who distinguish themselves by way of
words alone, to mingle with the giants of capitalism and their
cultural attachés.”
Wie können wir unsere Gemeinschaft auch gegen Widerstände von Leuten verstetigen, die Gruppenbildung verhindern wollen? Wie wehren wir uns gegen Machtkonzentration, Überwachung und Zersplitterung?